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Die Cloud-Souveränitäts-Lüge: Warum 'Made in Austria' bei Software oft Augenwischerei ist

Wir feiern den 'Datenstandort Österreich' und hissen die rot-weiß-rote Flagge. Doch wer das Kabel verfolgt, landet fast immer in Seattle oder Redmond.

29. November 2025
4 min Lesezeit

Es gibt dieses wohlige Gefühl, wenn ein österreichischer IT-Dienstleister Ihnen versichert: "Unsere Daten bleiben im Land." Man stellt sich dann einen physischen Server vor, der in einem kühlen Keller in Linz oder Klagenfurt steht, bewacht von einem Portier, der Dialekt spricht. Das suggeriert Sicherheit. Das suggeriert Unabhängigkeit. Das suggeriert Souveränität.

In 90 Prozent der Fälle ist das reines Marketing-Theater.

Lassen Sie uns ehrlich sein: Wenn wir heute von "Software Made in Austria" sprechen, meinen wir meistens nur die oberste, dünne Schicht der Anwendung – das User Interface, ein bisschen Business-Logik. Aber wenn wir den "Tech Stack" nach unten bohren, Schicht für Schicht abtragen wie bei einer Zwiebel, dann stoßen wir auf eine unbequeme Wahrheit: Das Fundament unserer digitalen Wirtschaft gehört nicht uns. Es gehört Amazon (AWS), Microsoft (Azure) oder Google (GCP).

Das "österreichische Rechenzentrum", von dem so stolz berichtet wird, ist oft nichts anderes als eine lokale "Availability Zone" eines US-Giganten oder ein lokaler Partner, der die Hardware stellt, während die Orchestrierung, die Sicherheitstools und die künstliche Intelligenz, die auf den Daten läuft, aus den USA kommen. Wir haben uns in eine totale Abhängigkeit begeben. Wir sind Mieter im eigenen Haus.

Ist das technisch schlecht? Nein. Um Himmels willen, nein.

Niemand in Österreich – und ich meine niemand – kann eine Infrastruktur bauen, die so sicher, so skalierbar und so innovativ ist wie die der Hyperscaler. Amazon investiert mehr Geld in R&D für seine Server-Farmen, als Österreich für sein gesamtes Bundesheer ausgibt. Zu glauben, wir könnten mit einer "Österreich-Cloud" dagegen anstinken, ist Größenwahn gepaart mit technischer Ahnungslosigkeit. Projekte wie GAIA-X, der verzweifelte Versuch einer europäischen Antwort, sind Papiertiger. Sie sind bürokratische Monster, die Standards definieren wollen, während das Silicon Valley Fakten schafft.

Das Problem ist also nicht die Technologie. Das Problem ist die strategische Erpressbarkeit, die wir leugnen.

Wir tun so, als wären wir autonom, hängen aber am Tropf. Was passiert, wenn sich die geopolitische Wetterlage ändert? Der "CLOUD Act" erlaubt US-Behörden schon jetzt Zugriff auf Daten von US-Unternehmen, egal wo der Server physisch steht – auch wenn er in Wien Favoriten steht. Die physische Geografie ist im digitalen Raum irrelevant. Die juristische Geografie zählt. Und dort sind wir Kolonie.

Wenn morgen in Washington eine Regierung entscheidet, dass europäische Unternehmen aufgrund eines Handelsstreits keinen Zugriff mehr auf bestimmte KI-APIs oder Cloud-Dienste haben sollen, dann steht bei uns nicht nur Netflix still. Dann stehen unsere Banken, unsere Versicherungen und unsere Industrie 4.0. Wir haben keinen Plan B.

Wir müssen aufhören, uns mit dem Label "Hosted in Austria" in falscher Sicherheit zu wiegen. Das ist digitales Schlangenöl.

Die Lösung liegt nicht in einer technologischen Autarkie, die wir uns weder leisten noch bauen können. Wir haben den Zug vor 15 Jahren verpasst. Die Lösung liegt in einem radikalen, unromantischen Pragmatismus. Wir brauchen eine Hybrid-Strategie, die Abhängigkeiten nicht leugnet, sondern managt.

Das bedeutet: Nutzen Sie die US-Hyperscaler. Nutzen Sie die Rechenpower. Aber behalten Sie die Schlüssel.

Das Konzept heißt "Bring Your Own Key" (BYOK) und konsequente Verschlüsselung, bevor die Daten das eigene Haus verlassen. Es bedeutet Containerisierung (Docker, Kubernetes), die es theoretisch erlaubt, die Anwendung von Amazon zu Microsoft oder auf einen lokalen Server zu schieben, wenn es hart auf hart kommt. Das ist mühsam. Das ist teurer als der bequeme "Vendor Lock-in". Aber es ist der Preis für echte Souveränität.

Cloud-Souveränität bedeutet heute nicht, die Hardware zu besitzen. Es bedeutet, die Wechselmöglichkeit zu besitzen.

Wer seine Software-Architektur so baut, dass sie so tief mit den proprietären Features von AWS oder Azure verwoben ist, dass eine Migration unmöglich wird, handelt fahrlässig. Das ist, als würden Sie ein Haus bauen, dessen Wände nur stehen bleiben, solange Sie Strom von einem einzigen, spezifischen Anbieter beziehen.

Österreichs CIOs und Geschäftsführer müssen aufwachen. Wir müssen aufhören, den "Datenschatz" in Tresore zu legen, deren Kombination wir nicht kennen. Wir müssen akzeptieren, dass wir die Infrastruktur der Amerikaner nutzen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber wir dürfen ihnen nicht die Schlüssel zu unserem digitalen Leben überlassen.

Der "Standort Österreich" ist im Internet keine GPS-Koordinate. Er ist eine Frage der Verschlüsselungstiefe und der Exit-Strategie. Alles andere ist Folklore.


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