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Generationenwechsel als System-Absturz: Wenn der Boomer geht und das Passwort mitnimmt

Warum wir bei der Unternehmensnachfolge über Notariatsakte reden, aber das eigentliche Risiko ignorieren: Das Wissens-Monopol des Patriarchen.

29. November 2025
4 min Lesezeit

Die Laudatio war rührend. Der Bürgermeister hat geredet, die Wirtschaftskammer hat die Goldene Ehrennadel verliehen, und beim Buffet gab es den guten Riesling. Der "Senior" zieht sich zurück. Endlich. Nach 40 Jahren an der Spitze des Familienunternehmens. Der "Junior" – oder der externe Manager, der sich das eingekauft hat – übernimmt am Montag. Alle klatschen.

Am Dienstagmorgen folgt dann der Kater. Und der hat nichts mit dem Wein zu tun.

Der Neue sitzt im Chefbüro und stellt fest, dass er zwar den Schlüssel zum Gebäude hat, aber nicht den Schlüssel zum Betrieb. Er loggt sich ein – und findet nichts. Leere Ordner. Ein CRM-System, das zuletzt 2019 aktualisiert wurde. Er ruft den wichtigsten Lieferanten an, und der sagt: "Ach, mit dem Herbert hab ich das immer anders gemacht, wir hatten da so eine Abmachung."

Das ist der Moment, in dem der Firmenwert implodiert.

Wir müssen aufhören, Unternehmensnachfolge als juristischen oder steuerlichen Akt zu betrachten. Das ist der einfache Teil. Der Notar regelt die Anteile, der Steuerberater die Schenkungssteuer. Aber niemand regelt den Brain-Drain. In Österreichs KMUs herrscht eine gefährliche Krankheit: Die Personalisierung von Prozessen.

Der "Patron" hat das Unternehmen nicht geführt wie eine Organisation, sondern wie eine Verlängerung seines zentralen Nervensystems.

Er war der Algorithmus. Er wusste, dass man Maschine 3 im Winter zwei Grad wärmer fahren muss. Er wusste, dass der Kunde Müller immer erst mahnt, wenn man ihn nicht vorher zum Essen einlädt. Er wusste, warum das Projekt in Rumänien wirklich gescheitert ist (und es steht nicht in den Akten). Dieses Wissen lag nicht auf einem SharePoint. Es lag in seinem Kopf. Und jetzt spielt dieser Kopf Golf.

Das Problem ist nicht boshafte Geheimniskrämerei. Es ist schlimmer: Es ist unbewusste Kompetenz. Diese Männer (und es sind in dieser Generation meistens Männer) wissen oft gar nicht, was sie wissen. Sie handeln intuitiv, basierend auf Jahrzehnten an Erfahrungsmustern. Wenn Sie den Senior fragen: "Wie machst du die Preiskalkulation?", sagt er: "Na ja, Material plus 20 Prozent." Aber in Wahrheit macht er: Material plus 20, minus Rabatt für den Schwager, plus Risikoaufschlag wegen der Wahl in den USA, minus Bauchgefühl weil der Kunde sympathisch ist.

Versuchen Sie mal, diesen Prozess in eine Excel-Formel zu gießen.

Das "Passwort", das der Boomer mitnimmt, ist keine Zeichenfolge für den Server. Es ist der Zugangscode zur sozialen und operativen Realität des Unternehmens. Wir sehen derzeit massenhaft Übergaben, die technisch "erfolgreich" sind, aber operativ im Chaos enden. Der Nachfolger versucht, moderne Management-Methoden anzuwenden, KPI-Dashboards einzuführen, Prozesse zu standardisieren – und läuft gegen eine Wand aus Gummi. Die Belegschaft ist konditioniert auf den Patriarchen. "Der Chef hat das immer so entschieden." Ohne den Chef steht das Werk still, auch wenn der Strom fließt.

Das ist kein IT-Problem. Das ist ein Shadow-IT-Problem der menschlichen Art.

Die wirkliche "Shadow IT" sind nicht die privaten Dropbox-Accounts der Mitarbeiter. Es sind die privaten E-Mail-Postfächer der Chefs, die WhatsApp-Verläufe auf privaten Handys, die Notizbücher in der Brusttasche. Dort findet die Wertschöpfung statt. Und diese Daten sind unstrukturiert, nicht durchsuchbar und – im schlimmsten Fall – rechtlich nicht greifbar, wenn der Senior sie als "privat" deklariert.

Wir erleben hier einen System-Absturz mit Ansage.

Jedes Unternehmen, das heute noch vom "Allwissen" einer Einzelperson abhängt, ist im Grunde unverkäuflich und unübergebbar. Zumindest zu dem Preis, der in der Bilanz steht. Ein Investor, der bei der Due Diligence aufpasst, wird den "Bus-Faktor" berechnen: Wie viele Leute müssen von einem Bus überfahren werden, damit das Projekt scheitert? In vielen österreichischen Weltmarktführern ist die Antwort: Einer.

Was bedeutet das für die Nachfolge?

Hören Sie auf, über Steuermodelle zu reden, bevor Sie nicht über Wissens-Extraktion geredet haben. Eine Übergabe darf kein Stichtag sein. Sie muss eine Biopsie sein. Man muss das implizite Wissen des Seniors schmerzhaft, detailliert und systematisch extrahieren. Das ist unangenehm. Das kratzt am Ego des Patriarchen, weil es ihn entzaubert. Es macht aus "magischer Intuition" einen simplen Prozessschritt.

Aber wenn Sie das nicht tun, kaufen Sie kein Unternehmen. Sie kaufen eine Hülle. Und dann sitzen Sie da, mit einem modernen Laptop, einem schicken Titel auf der Visitenkarte und einem Telefon, das nicht mehr klingelt, weil alle Anrufe immer noch auf das Handy des Alten gehen – der gerade auf Mallorca abschlägt.

Der Generationswechsel ist der ultimative Stresstest für die Organisation. Wenn das System ohne den Gründer crasht, war es nie ein System. Es war nur eine One-Man-Show mit Statisten.


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